Europäische Top-Klubs verstoßen die Fans, die den Fußball groß gemacht haben

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus? Wer auf diese Frage schon immer eine Antwort gesucht hat, findet Anschauungsunterricht beim Profifußball. In einer Marktwirtschaft steht der Kunde im Mittelpunkt. Es wird produziert, was die Menschen wünschen – nur so lässt sich dauerhaft Geld verdienen. Im Kapitalismus ist das zwar grundsätzlich auch so, doch können sich einzelne große Player über die Kundenwünsche hinwegsetzen und die Regeln des Marktes diktieren.

Was hat das mit dem Fußball zu tun? Zwölf europäische Top-Klubs haben in der Nacht von Sonntag auf Montag die Gründung einer eigenständigen Super League verkündet. Diese Super League ist als weitgehend geschlossene Veranstaltung konzipiert, denn 15 Klubs wären als feste Teilnehmer gesetzt. Lediglich fünf Klubs sollen sich zusätzlich qualifizieren, sodass die Liga aus insgesamt 20 Mannschaften bestehen wird. Damit soll ein Produkt entstehen, für das es bei den herkömmlichen Fans praktisch keine Nachfrage gibt. In einer Online-Umfrage des Sportmagazins kicker fiel das Zwischenergebnis (Stand: 20. April 2021, 19 Uhr) eindeutig aus: Auf die Frage „Wie finden Sie die vorgestellten Pläne für eine europäische Super League?“ antworteten 94 %: „schlecht“; lediglich 6 % antworteten: „gut“. Auch wenn die Umfrage nicht repräsentativ ist, zeigten andere Umfragen in den vergangenen Jahren ebenfalls die klar ablehnende Haltung der Fans. Medienberichten zufolge machen sogar Fans derjenigen Klubs mobil gegen die geplante Super League, die selbst zu deren Initiatoren und Teilnehmern gehören.

Dass alle übrigen Klubs, Funktionäre und die Verbände FIFA und UEFA protestieren, versteht sich von selbst – schließlich sehen sie ihre Felle davon schwimmen und sie fürchten den Bruch der Fußballfamilie. Die UEFA muss sich darüber besonders ärgern, denn sie ist den Top-Klubs mit der tags darauf präsentierten Champions League-Reform sehr weit entgegengekommen. Das abermalige aufpumpen des Wettbewerbs hat rein finanzielle Gründe.

Naive Geister könnten nun argumentieren, so sei das eben mit dem Wettbewerb in einer Marktwirtschaft. Oder: Das Bessere sei der Feind des Guten. Wenn die quasi-geschlossene Super League in Konkurrenz tritt zum bestehenden europäischen Modell mit offenen nationalen Ligen und übergeordneten europäischen Wettbewerben (Champions und Europa League), wirke das belebend. Am Ende setze sich eben das bessere, von den Fans favorisierte Produkt durch. Die Super League sorge für zusätzlichen Wettbewerb, weil sie das natürliche Monopol von FIFA und UEFA aufbreche.

Es könnte weiterhin argumentiert werden, dass eine solche Super League ja gar nicht erst entstehen würde, wenn die Fans sie tatsächlich so vehement ablehnen, wie es die Umfrageergebnisse suggerieren. Schließlich würden sich die Top-Klubs mit ihrer Super League-Idee ja nicht ins eigene Fleisch schneiden wollen. Zudem – so ein weiteres Argument der Befürworter – zeige der amerikanische Teamsport, dass auch geschlossene, vollkommen durchkommerzialisierte Ligen sehr erfolgreich sind.

Das sind durchaus interessante Gedankenspiele, die sich hervorragend für akademische Oberseminare eignen. Mit der Realität des Fußballs hat das alles jedoch wenig zu tun. Erstens kann ein solcher Parallel-Wettbewerb den Fußball in seiner bekannten Form ruinieren. FIFA und UEFA drohen bereits damit, dass alle Spieler der Super League nicht mehr an den Welt- und Europameisterschaften teilnehmen dürften. Zudem könnten die Klubs nicht gleichzeitig in der Super League und in der Champions League bzw. in ihren nationalen Ligen spielen. Ein transparenter Wettbewerb der Besten unter einem gemeinsamen Dach wäre nicht mehr möglich. Zweitens brauchen sich die Initiatoren der Super League vor der fehlenden Akzeptanz der herkömmlichen Fans nicht zu fürchten, wenn mächtige Geldgeber den Geldfluss garantieren. Die kolportierten 3,5 Mrd. Euro, mit denen eine amerikanische Investmentbank die Super League wohl zunächst finanzieren wird, sind attraktiv genug, um Umsatzeinbußen auszugleichen, die mit dem Liebesentzug oder Boykott der herkömmlichen Fans einhergehen könnten. Im Fußball-Kapitalismus können einige große Geldgeber die Richtung bestimmen. Die Umsätze aus Ticket- und Fanartikelverkäufen spielen dagegen kaum eine Rolle.

Zugegeben: Es brauchte nicht erst die Bekanntgabe einer Super League, um zu erkennen, dass sich der Fußball immer weiter von den traditionellen Fans entfernt, die ihn einst groß und das Fußballspiel mit ihrer Liebe und Leidenschaft zu einem regelrechten Ereignis gemacht haben. Die zahlreichen Facetten der Kommerzialisierung haben viele Fußballfans in den letzten drei Dekaden oft zähneknirschend hingenommen. Die verbreitete „Söldnermentalität“ haben die Fans ebenso schlucken müssen wie die jedes nachvollziehbare Maß übersteigenden Transfersummen und Spielergehälter. Im Sinne der Erlösmaximierung aufgeblähte oder neu erfundene Wettbewerbe wurden achselzuckend ertragen. Der Fan hat ja die Freiheit, den Fernseher nicht einzuschalten – wovon er zuletzt auch bei Länderspielen immer öfter Gebrauch gemacht hat.

Vor ziemlich genau einem Jahr, als die Corona-Pandemie den erfolgsverwöhnten Profifußball wie ein Blitz traf, war viel von Demut und Rückbesinnung die Rede. Die Initiatoren der Super League hingegen haben offenbar andere Schlüsse gezogen und sich von der Politik abgeschaut, dass Krisen die beste Zeit sind, um ungeliebte Reformen durchzuziehen. Ihre Argumente sind einigermaßen scheinheilig: Mit der Super League würden die Fans das Drama, die Leidenschaft und vor allem die Unvorhersehbarkeit bekommen, die die aktuellen europäischen Wettbewerbe angeblich nicht mehr hätten. Doch es waren gerade diese Top-Klubs, durch deren Druck sich die Finanzschere im europäischen Fußball immer weiter geöffnet hat. Wenn die Top-Klubs ehrlich wären, würden sie zugeben, dass ihnen die Unvorhersehbarkeit ein Dorn im Auge ist. Sie wollen nämlich das Risiko eines Ausscheidens aus der Champions League loswerden – und natürlich das Risiko der damit verbundenen Einnahmeausfälle.

Auch argumentieren die Top-Klubs, die Fans würden mit der Super League das bekommen, was sie wollen. Doch die bestehenden Fans sind damit offenkundig nicht gemeint. Vielmehr scheint der Fokus auf neue Konsumenten aus Asien und Amerika zu gehen. Dafür spricht auch der Zeitpunkt, zu dem die neue Super League bekanntgegeben wurde: Kurz nach Mitternacht unserer Zeit. Während die europäischen Fans schliefen, schlug die Nachricht in den USA am Abend und in Fernost am Morgen ein.

Es wird nun spannend sein, wer am längeren Hebel sitzt und was den Top-Fußballern wichtiger ist: Die Teilnahme an einer durchkommerzialisierten Liga, die auf den globalen Markt zielt (und die für ihre Spiele möglicherweise wie ein Zirkus durch die Metropolen dieser Welt tingelt) oder die Teilnahme an den nationalen Ligen und in den Nationalmannschaften? Der Streit kann sich sehr schnell hochschaukeln, zum Beispiel wenn die Gründungsteams der Super League schon in der laufenden Saison von der UEFA und den nationalen Verbänden sanktioniert würden.

Zumindest ein ermutigendes Zeichen gibt es für die Fans alter Prägung: Der FC Bayern hat seine Teilnahme an der Super League am Dienstag kategorisch ausgeschlossen.