GASTBEITRAG: You’ll never walk alone! COVID-19 und die Bedeutung der Fußballfans für den Spielausgang

Von Prof. Dr. Florian Follert und Prof. Dr. Frank Daumann

 Die Pandemie als natürliches Experiment

Es ist unbestritten, dass die COVID-19-Pandemie das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit in einem Maße beeinflusst und verändert hat, wie es die meisten nach 1945 geborenen Menschen noch nicht erlebt haben. COVID-19 führt zu Diskussionen: In Familien, am Arbeitsplatz und nicht zuletzt in den sozialen Netzwerken wird mitunter heftig über politische Maßnahmen und wirtschaftliche Auswirkungen diskutiert. Auffällig ist, dass auch wissenschaftliche Erkenntnisse den Weg in die breite Bevölkerung finden. Dies beschränkt sich nicht bloß auf virologische oder epidemiologische Studien, sondern betrifft auch beispielsweise ökonomische, psychologische oder juristische Fragen. Bei allen Einschränkungen gibt etwa der Sport – sei es in aktiver oder passiver Funktion – vielen Menschen halt. Professionelle Fußballspiele konnten früh wieder stattfinden, wenn auch ohne Zuschauer. Was vielen Sozialwissenschaftlern schnell klar war: Diese Situation ist bei aller Tragik der Gesamtsituation eine wahre Fundgrube für die Wissenschaft. Auch in der Vergangenheit gab es immer wieder Spiele unter Ausschluss von Zuschauern – sog. „Geisterspiele“. Allerdings waren dies in aller Regel Einzelfälle, die der Bestrafung für Fehlverhalten auf Seiten bestimmter Anhänger dienten (etwa Dilger und Vischer 2020). Nun fanden durch die politischen Maßnahmen zur Reduzierung des Infektionsgeschehens zahlreiche Spiele unter annähernd gleichen Bedingungen statt, sodass dies aus wissenschaftlicher Sicht zumindest in Ansätzen einem natürlichen Experiment gleichkam.

Geisterspiele und Heimvorteil

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Studien als Working Paper publiziert wurden und es fiel auf, dass eine große Zahl an Studien sich mit dem Heimvorteil befasste. Der Heimvorteil ist ein in der Literatur seit langem beobachtetes Phänomen. Nach der bekannten Definition von Courneya und Carron (1992, 13) meint der Begriff „Heimvorteil“ „the consistent finding that home teams in sport competitions win over 50% of the games played under a balanced home and away schedule“. Der Heimvorteil ist als empirisch erfasstes Phänomen seit den siebziger Jahren bekannt, insbesondere aus den US-amerikanischen Major Leagues (etwa Schwartz und Basky 1977). Als Erklärung wird heute überwiegend auf solche Faktoren verwiesen, die mit dem Austragungsort in Verbindung stehen, insbesondere die Anreise, die Kenntnis des Platzes oder die Fans (sog. „crowd“) (Courneya und Carron 1992; Carron et al. 2005). Die durch den Bund sowie die Länder beschlossenen Beschränkungen lieferten insofern also fast laborähnliche Bedingungen, um die Wirkung der Fans auf den Ausgang eines Spiels zu untersuchen. Bereits früh zeichnete sich ab, dass die Daten der meisten Untersuchungen einen Rückgang des Heimvorteils erkennen lassen (als Überblick Follert, Passon und Daumann 2020). Nachdem im Zeitablauf immer mehr Analysen erschienen und inzwischen zahlreiche Beiträge nach erfolgreichem Peer-Review publiziert wurden, manifestiert sich der erste Eindruck. In einem aktuellen systematischen Literature Review untersuchen Leitner et al. (2021) die Ergebnisse von 16 empirischen Studien, von denen 13 einen signifikanten Rückgang des Heimvorteils während der COVID-19-Geisterspiele beobachten; einen Anstieg des Heimvorteils konnte hingegen keine der Publikationen finden. Es stellt sich die Frage nach möglichen Gründen für den Rückgang des Heimvorteils während der Abstinenz der stimmungsproduzierenden Anhänger. Der im Zuge der aktuellen Studien am häufigsten anzutreffende Erklärungsansatz bezieht sich auf einen Wirkungsmechanismus, der von den Fans über den Schiedsrichter verläuft. Durch die typische „Heimatmosphäre“ wird ein sozialer Druck erzeugt, der in entscheidenden Situationen zu einer Begünstigung der Heimmannschaft führen kann, was etwa durch die Analyse der gelben und roten Karten sowie der gepfiffenen Elfmeter untersucht wurde. Die Abwesenheit der Zuschauer führt möglicherweise auch bei Spielern, Trainern und Betreuern zu einem veränderten, oftmals weniger emotionalen Verhalten (Leitner und Richlan 2021), was den verhaltenswissenschaftlichen Erklärungsansatz unterstützt.

Es muss beachtet werden, dass der Heimvorteil auf aggregierter Ebene berechnet wird. Es ist naheliegend, dass der individuelle Effekt sich von Klub zu Klub unterscheidet. So ist es etwa denkbar, dass die Stärke der Bindung zwischen Fans und Mannschaft einen Einfluss auf die Stärke haben kann. Fischer und Haucap (2020) stellten auch Unterschiede im Rückgang des Heimvorteils zwischen den deutschen Profiligen fest und führen als Erklärung etwa das Delta zwischen einem regulären Spiel und einem Geisterspiel als Einflussfaktor an.

Implikationen

Fans werden oftmals als „12. Mann“ bezeichnet, um ihre Bedeutung für den professionellen Fußball zu untermauern. Der tatsächliche Beitrag, den die Anhänger über diese anekdotische Evidenz hinaus leisten, konnte jedoch erstmal durch die besondere Situation während der COVID-19-Pandemie empirisch erfasst werden. Insofern könnte sich die Wahrnehmung der Anhänger durch die Klubs, aber auch durch die Öffentlichkeit ändern. Fans sind, nach allem was wir im Rahmen der Geisterspiele erkennen konnten, nicht lediglich Konsumenten der Unterhaltungsdienstleistung „Fußball“, sondern sind aktiv an der Produktion beteiligt (Follert, Daumann und Passon 2020). Einerseits treten sie als Produzenten der typischen Stadionstimmung auf, die wiederum andere Nachfrager anlockt. Andererseits agieren sie jedoch auch als Mitproduzenten des sportlichen Erfolgs. Die Unternehmensverfassung von Fußballklubs unterscheidet sich bislang in vielerlei Hinsicht von anderen Unternehmen, dies gilt insbesondere für den deutschen Fußball. Die empirischen Erkenntnisse aus der COVID-19-Pandemie könnten gerade den Gegnern einer zunehmenden Ökonomisierung des Fußballs (etwa Follert 2018) als Argumentation dienen, die Bedeutung der Fans – auch für den sportlichen Erfolg des Klubs – herauszustellen.

 

Literatur

Carron, A. V., Loughhead, T. M., & Bray, S. R. (2005). The home advantage in sport competitions: Courneya and Carron’s (1992) conceptual framework a decade later. Journal of Sports Sciences 23(4), 395-407.

Courneya, K. S., & Carron, A.V. (1992). The Home Advantage in Sport Competitions: A Literature Review. Journal of Sport & Exercise Psychology 14(1), 13-27.

Dilger, A., & Vischer, L. (2020). No home bias in ghost games. ECONSTOR. http://hdl.handle.net/10419/223208

Follert, F. (2018). Ökonomisierung des Fußballs. Das Wirtschaftsstudium 47, 668-670.

Follert, F., Daumann, F., Passon, L. (2020). Zur Bedeutung der Fans im professionellen Fußball im Lichte der COVID-19 -Pandemie. Sciamus – Sport und Management 11(2), 28-49.

Leitner M. C., Richlan F. (2021). Analysis System for Emotional Behavior in Football (ASEB-F): Matches of FC Red Bull Salzburg without Supporters during the COVID-19 Pandemic. Humanities & Social Sciences Communications 8, Article 14.

Leitner, M.C., Daumann, F., Follert, F., Richlan, F. (2021). The Cauldron Has Cooled Down: A Systematic Literature Review on COVID-19, Ghost Games, and Home Advantage in Football from a Behavioral Science Perspective. Working Paper Version, doi: 10.31234/osf.io/qjp27, https://psyarxiv.com/qjp27/.

Schwartz, B., & Barsky, S. F. (1977). The home advantage. Social Forces 55, 641-661.